Handbuch Transformative Gerechtigkeit: Theorie, Praxis, Perspektiven
Als politisch Aktive aus verschiedenen emanzipatorischen Bewegungen und Projekten im deutschsprachigen Raum sehen wir uns immer wieder mit gesellschaftlichen Machtstrukturen konfrontiert, die sich auch in unseren Umfeldern und politischen Gemeinschaften fortsetzen. Als Symptome dieser Machtstrukturen werden zum Beispiel regelmäßig einzelne Fälle von sexistischer Diskriminierung und sexualisierter Gewalt bekannt. Bewegungen wie #metoo und Ni una menos oder auch die Geschehnisse um das Festival ‚Monis Rache‘ haben diese Themen auch im deutschsprachigen Raum an eine breitere Öffentlichkeit gebracht.
Wir erleben in Reaktion auf solche Fälle immer wieder eine Unfähigkeit (gemeinschaftlicher) Antworten auf Gewalt, stattdessen Ignoranz und Hilflosigkeit gegenüber Betroffenen sowie auch gewaltausübenden Personen. Handlungsversuche verbleiben oft in „Feuerwehrpolitik“ von Fall zu Fall, die aber nicht zur Systematik von internen (geschweige denn gesamtgesellschaftlichen) Machtstrukturen vordringen, sondern lediglich Aktive überlastet und oft nicht die erhofften Zwecke erreicht. So scheint einzig der Rückgriff auf Strafe und Ausschlüsse, Justiz und Polizei Hilfe zu versprechen. Doch auch hier setzen sich (patriarchale) Strukturen fort: betroffenen Personen wird nicht geglaubt oder ein potentiell retraumatisierendes (Zwangs-)Verfahren ins Rollen gebracht, das weder betroffenen Personen, noch ihren Gemeinschaften Aufarbeitung und Heilung ermöglicht und Verantwortungsübernahme gar nicht fördert.
Solche Dynamiken schwächen und beschädigen politische Strukturen und Bewegungen, ja, ganze Gemeinschaften und unsere Gesellschaft, welche dann tendenziell marginalisiertere Menschen verlieren, sich in interne Konflikte verstricken und schließlich daran zerbrechen. Solche Dynamiken treten immer wieder auf, weil es an Strukturen fehlt, die alternative Erfahrungen zusammentragen und Handlungsmacht generieren, anbieten und teilen können. Auf der Suche nach Alternativen fanden im deutschsprachigen Kontext in jüngerer Zeit erstmals Konzepte der Transformativen Gerechtigkeit (TG) Beachtung. Transformative Gerechtigkeit meint Umgänge mit Konflikten und zwischenmenschlicher Gewalt, die – statt auf Strafe und institutionalisierte Wege – auf Empathie, Heilung und individuelle sowie gesellschaftliche Transformation und die Verantwortung beteiligter Menschen setzen. Konzepte Transformativer Gerechtigkeit beruhen auf alternativen Konfliktlösungsstrategien indigener Gemeinschaften wie zum Beispiel Restaurativer Gerechtigkeit und wurden unter diesem Namen seit den 1980ern von Queers und Feminist*innen of Color in Nordamerika entwickelt. Sie haben das Ziel, zwischenmenschliche Gewalt innerhalb der eigenen Community zu bearbeiten, ohne sich der rassistischen und patriarchalen Gewalt und Marginalisierung der Mainstreamgesellschaft und des Staates auszusetzen. Das heißt zum Beispiel, der Polizei als zentralem Akteur patriarchaler, queerfeindlicher und rassistischer Gewalt sowie dem rassistischen und klassistischen Industriellen-Gefängnis-Komplex nicht den Eingriff in die eigene Community zu gewähren, sondern mit den eigenen Handlungen daran mitzuwirken, diese obsolet zu machen. Es geht also weder darum, Strafe in die eigene Hand zu nehmen, noch um Apologetik gegenüber zwischenmenschlicher Gewalt. Ganz im Gegenteil soll transformative Arbeit Gemeinschaften ermächtigen, Konflikte selbst in die Hand zu nehmen und abseits von staatlicher Strafe tatsächliche Hilfe und Heilung zu finden, gewaltvolles Verhalten innerhalb der eigenen Community zu adressieren und gleichzeitig die Strukturen, die es ermöglichen, sowie die gewaltvollen gesellschaftlichen Verhältnisse insgesamt zu transformieren. TG setzt so verschiedene machtkristische Anliegen in ein konstruktives intersektionales Verhältnis und bettet einzelne Fälle von Gewalt in eine grundlegende Herrschaftsanalyse ein. TG bietet zudem einen praktischen Rahmen an, in dem bisherige Handlungsfelder wie Betroffenenunterstützung und politische Arbeit als Teil eines größeren Ganzen gesehen und um zuvor meist unbeachtete Handlungsfelder wie den Umgang mit gewaltausübenden Person ergänzt werden.
Wir sind eine Gruppe von Menschen, die auf verschiedenen Ebenen patriarchale Gewalt und Unterdrückung wie Sexismus, Homo-, Trans- und Queerfeindlichkeit, sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungen erleb(t)en. Wir alle haben Erfahrungen in der deutschsprachigen und europäischen linken Szene und antiautoritären Zusammenhängen gesammelt und arbeiten teils seit vielen Jahren mit Konzepten Transformativer Gerechtigkeit.
Um unsere Erfahrungen zu teilen und mit Anderen in Austausch zu treten, möchten wir ein Handbuch zum Thema herausgeben. Das Buch soll verschiedene Zugänge zum Thema, theoretische wie praxisbezogene, versammeln. Unser Interesse ist, Umgänge mit zwischenmenschlicher Gewalt jenseits von Polizei, Gefängnis und Justiz zu finden, auszuprobieren und zu verbreitern. Das Buch soll sich primär an Menschen richten, die schon Vorwissen zu Transformativer Gerechtigkeit haben und die bestehende Basisliteratur, die in jüngerer Zeit in deutscher Sprache entstanden ist, ergänzen. Dabei wollen wir Raum für verschiedene Formate schaffen, über Sachtexte und Interviews bis zu Lyrik und Kunst. Hinzu sollen Ausblicke und Angebote zum Weiterdenken an transformativen Ideen kommen. Durch seine Vielfalt wird das Buch aber auch Zugänge für Menschen eröffnen, die mit der Beschäftigung des Themas erst beginnen oder sich auf einer theoretisch-akademischen Ebene nähern wollen. Zuguterletzt ermöglicht die Praxisnähe in Kombination mit konkreten Methoden ebenfalls einen Zugang für alle Menschen, die in ihren Beziehungen, Strukturen oder Selbstorganisationen bestehende Gewaltverhältnisse besprechbar, reflektierbar und schließlich transformierbar machen wollen.
Das Buch soll verschiedene bestehende Texte und Gedanken zu TG ebenso ergänzen wie weiterdenken und erstmals Übersetzungen englischsprachiger Veröffentlichungen zum Thema in deutscher Sprache bieten. Das Herausgeber*innenkollektiv steht zudem in engem Kontakt mit anderen TG-Praktizierenden und möchte deren Expertisen in Form einzelner Texte einholen. Mit eigenen Einleitungs- und Überblickstexten gibt das Herausgeber*innenkollektiv den verschiedenen Perspektiven einen Rahmen. Eigene Texte des Herausgeber*innenkollektivs zu unterschiedlichen Themen sollen zudem den Sammelband zu Transformativer Arbeit abrunden.
Die Verlegung soll 2022 über einen politischen Verlag geschehen. Hierfür laufen bereits Gespräche.
Wir betrachten das Buch insbesondere in der aktuellen Pandemie als besonders wichtiges Projekt, da die Notwendigkeit gemeinschaftlichen Zusammenhalts und von Kämpfen gegen Rassismus und gegen häusliche Gewalt aktuell in besonderer Deutlichkeit hervortritt. Darüber hinaus eröffnet das Projekt Möglichkeiten, unsere politische Arbeit weiterzuführen, obwohl gerade viele Aktionsformen und Bildungsangebote wegfallen. Mit dem Buch wollen wir den eher jungen Diskurs um transformative Arbeit im deutschsprachigen Raum über diese Zeit erhalten, weitertragen und aufzeigen, warum Antworten gerade jetzt wichtiger denn je sind.